Der Tod meines Vaters

Der Tod meines Vaters

Ich sitze, während ich dies tippe, im Zimmer, in dem vor inzwischen mehr als zehn Tagen mein Vater gestorben ist. Vor mir liegen einige Bilder von ihm:

Der ernste desillusionierte Vater, der ernste junge Vater voller Hoffnung im Blick, der ältere nachdenklich-feierliche Vater mit einer Ikone im Hintergrund, der zart lächelnde Vater, der mich sanft vom Bild anschaut.

Am Vorabend

Mein Vater schenkte mir die Gnade, mit seinem Tod auf uns gewartet zu haben. Wir kamen gerade noch rechtzeitig an. Am Vorabend saß ich an seinem Bett und bewunderte seine Wimpern, die seine verschlossenen, aber noch lebendigen Augen umhüllten. Sie waren so schön. Sein Gesicht war voller stiller Würde und Lebendigkeit. Als ob sich das Leben vor dem herannahenden Tod in seiner ganzen Intensität zeigen wollte. Bis jetzt so selbstverständlich war dieses Gesicht, weil so vertraut. Plötzlich sah ich meinen Vater in seiner ganzen Einzigartigkeit wie nie zuvor.

Die Zeit entschleunigte sich. Jeder Augenblick in seiner Anwesenheit wurde unheimlich kostbar. Plötzlich tat das lebenslange Für-Selbstverständlich-Halten sehr sehr weh. Plötzlich reichte es vollkommen und wie noch nie aus, dass er einfach nur da war. Seine Präsenz war weder von gegenseitigen Erwartungen noch Enttäuschungen verschleiert.

In diesem Körper lebte Gott ein Leben lang. Unbemerkt, ungesehen, ungewürdigt. Jetzt zeigte er sich deutlich. Als ob er – ein wenig sarkastisch und ein wenig verbittert – sagen wollte: „ihr habt mich wieder mal in einem Menschen nicht erkannt…“

Kurz zuvor

Thomas und ich sitzen ihm gegenüber und versinken meditativ mit dem Klang des Gayatri-Mantras. Der Klang vermischt sich mit seinem schweren Atem.

Es ist, als ob das Leben und der Tod eins würden. Innere Stille bahnt sich den Weg von innen nach außen.

Wir entfernen uns für einen Augenblick in die Küche, um zu frühstücken. Es ist früher Nachmittag, kurz vor 13.

Der Tod

„Olha, ruf die Mutter!“, ruft mir mein Bruder zu.

Mein Vater atmet schwer. Dann öffnet er die Augen, die sich aber nicht auf uns, sondern auf einen weiten unsichtbaren Punkt oben richten. Für einen kurzen Moment verzerrt sich sein Gesicht vor Leid.

Er atmet so sanft aus, dass ich den Augenblick des Todes fast nicht wahrnehme. Wahrscheinlich verweigere mich nur seiner Realität..

Tiefe Trauer bahnt sich den Weg durch den Raum und finden den Ausdruck in stillen Tränen und Umarmungen.

Die Hände

Der Übergang vom Leben zum Tod bleibt für mich an den Händen spürbar. Warm – lauwarm – kalt – wachsen. 

Der lachende Vater

Wir sitzen nach dem Begräbnis am Küchentisch. Der Vater sitzt mit uns, indem er uns vom Bild sanft und hoffnungsvoll zulächelt.

Seinen Lebensfunken, seine sich nach Lebenslust sehnende Natur wusste ich nie zu schätzen und zu würdigen.

Eine ablehnende Haltung habe ich oft eingenommen. Nun nehme ich wie nie zuvor ihn an. Die Trauer über die eigene Ablehnung und das eigene Nein zum Leben und zu manchen seiner Aspekte werden mich wohl noch lange begleiten. Trauer über verpasste Augenblicke und versäumte Gelegenheiten.

Ich weine jetzt bitterlich. Über das und auch darüber, dass ich es nicht besser konnte. Ich schwöre mir, jeden Menschen nur deshalb schon zu würdigen und anzunehmen, weil er noch warme Hände und einen Lebenshauch hat, weil ich ihn umarmen könnte (auch wenn es oft nur bei ´könnte´ bleibt). Ich schwöre mir, von lebensverneinenden Gewohnheiten abzulassen, dem urteilenden Verstand nicht weiter zu folgen. Zu grob (was  mein größtes Problem mit Menschen ist), zu laut, zu oberflächlich…

Beim Leichenschmaus saßen mir all diese gewöhnlichen Menschen gegenüber. Und ich liebte sie einfach so und ohne jede Bedingung. In solchen verbindenden Momenten fällt es erstaunlich leicht zu lieben und sich eins zu fühlen.

Der All-tag

Inzwischen sind mehr als zehn Tage vergangen. In der Küche piepsen drei frisch geschlüpfte Küken, die – da die anderen noch eventuell am Schlüpfen sind – vorsichtshalber in einem warmen Karton behutsam und erstmal stellvertretend für die Henne versorgt werden.

Gestern hatten wir Besuch. Die Tochter der Patentante meines Bruders mit ihrem Freund. Sie saßen bis Mitternacht am Tisch im Zimmer, in dem mein Vater gestorben ist. Sie erzählten und wir erzählten. Viel Gelächter. Viel übliche Imagepflege, die unter uns Menschen so üblich ist. Wenig Tiefe. Eine Art Rauschzustand. Adrian, der Freund der Tochter der Patentante, folgte seiner Rauchgewohnheit und ging ein paar Mal nach draußen, um zu rauchen. Thomas und ich wollten eigentlich schon gehen. Und blieben doch, wahrscheinlich aus Höflichkeit.

Und heute Morgen eine große Beklemmung bei mir. Wie nach einer durchzechten Nacht, obwohl niemand Alkohol getrunken hat. Eine bittere bedrückende Leere, die sich nach viel Oberflächlichkeit einstellt, wenn sich die gemeinsam verbrachte Zeit auf implizite Imagepflege reduziert.

Ich gebe zu, mit Masken, die deren Trägerinnen und Trägern verschleiern, ohne dass diese das selbst merken, habe ich (noch) ein Problem. Sie halten mich bei den Oberflächlichkeiten auf und von der Tiefe des Augenblicks ab. Sie sind es auch, die den körperlichen Tempel Gottes bis zur Unkenntlichkeit verschleiern und von ihm weit wegführen, in den illusorischen Irrgarten des Verstandes. Des verwirrten Geistes, wie Thomas ihn bezeichnet, der vergessen hat, dass er nur EIN TEIL des Lebens ist. Des Geistes, der ein Meister im Energie-Abzweigen und -Verschwenden ist, der den Lebenshauch am liebsten für sich allein beansprucht. Des Geistes, für den eine einfache Präsenz auf jeden Fall nicht ausreichend und sehr beängstigend ist.

Der Geist lebt nur oben im Kopf und im ausgedachten Kopfkino und selten will er den Körper be-geist-ern, wie dies wohl seine ursprüngliche Bestimmung wohl wahr.

Heute las ich zufällig im Buch von Diana und Michael Richardson „Zeit für Gefühle“, dass wir alle nach oben und nach außen konditioniert wurden. Weg vom atmenden Körpertempel, hin zum Ausgedachten im Kopf. Wo der Körper nichts als Hindernis oder als Werkzeug zum Umsetzen der ausgedachten Ziele ist: „Wir neigen dazu, den Körper wie eine Maschine zu behandeln und ihn mechanisch, unachtsam und ohne Bewusstsein zu benutzen.“ (ebd., S 47f.).

Der Tod <=> das Leben

Der Tod meines Vaters gab mir einen entscheidenden Hinweis auf das Leben im echten, unverfälschten und ursprünglichen Sinne. Das Leben, das sich nicht am Getanen oder Erreichten misst, sondern wie ein Bach vor sich hin fließt.

Lieber Vater, ich danke dir, dass du mich mit deinem Tod an das Leben erinnert hast.

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