KI: Das Kind des einsamen Mannes?
Im Artikel „Das Kind im Roboter“ von Wolfgang Stieler (Technology Review. Das Magazin für Innovation, 4/2015) lese ich, dass humanoide Roboter Wissenschaftlern helfen sollen zu verstehen, wie Kinder lernen und wie der Mensch zu Bewusstsein kommt. Als fernes Ziel werden intelligente Maschinen angepeilt. Es wird also angenommen, dass Roboter Intelligenz erreichen können. Ich behaupte jedoch, dass es nur einen kleinen Überlappungsbereich zwischen Roboter und Mensch geben kann, da der Roboter nicht das Spektrum der Intelligenz eines Menschen erreichen kann.
Was ist Intelligenz?
Intelligenz geht auf das lateinische intelligere bzw. intellegere zurück in der Bedeutung innewerden, verstehen, erkennen, auf das Ziel hin, eine überlegte Wahl zu treffen. Im 17.-18. Jh. hat das Wort ins Deutsche Eingang gefunden, doch – dem Zeitgeist entsprechend – in einer engeren Bedeutung, nämlich gute Auffassungsgabe, Klugheit, Verstand’. Das Verständnis von Intelligenz wurde um das Innewerden, Erkennen, also den inneren Prozess der Einsicht beraubt. Auf dieser reduzierten Auffassung der Intelligenz beruht nicht nur die heutige KI-Forschung, sondern auch die Auffassung des Menschen in der heutigen Gesellschaft. Auf diese eher vergessenen bzw. verdrängten Aspekte der Intelligenz möchte ich hier eingehen.
Einsicht durch Erfahrung
Einsicht ist nicht gleich Wissen. Es besteht ein Unterschied zwischen Gewusstem (durch Auswertung der Daten und Fakten) und Bewusst Erfahrenem. Einsicht ist, wie das Wort sagt (Ein-Sicht), nicht allein das Gewusste. Es ist auch ein innener Prozess bzw. Innen-schau. Entscheidend sind bei dieser Innenschau Emotionen und Gefühle. Klar, deren Rolle ist ambivalent, denn sie können bei einer Entscheidung nicht nur helfen, sondern auch stören. In beiden Fällen machen sie das aus, was zum Prozess der Menschwerdung gehört und eine bewusste Auseinandersetzung erfordert.
Ein Roboter wird nicht Leid fühlen, nicht Scheitern und Hilflosigkeit kosten, nicht all das, was das gefühlte Spektrum der menschlichen Erfahrung ausmacht. Doch ein Roboter wird problemlos und wahrscheinlich ziemlich raffiniert über Leid, Scheitern und Hilflosigkeit des Menschen sprechen lernen. Doch über Leid zu sprechen ist etwas anderes als selbst Leid zu erfahren oder anderen Leid zuzufügen. Denn erst die Erfahrung des Leids am eigenen Leib kann Empathie entstehen lassen.
Wissensstrukturierung bei Roboter wird nicht der beim Menschen gleichen, da vermutlich nur Menschen das limbische Gehirn haben, das jedes Wissen nach emotioneller Relevanz (gemäß den in der Welt gemachten Erfahrungen) strukturiert. Der Wert des Wissens ohne emotionelle Einbettung und Beteiligung ist fraglich.
Einsicht durch Körperwahrnehmung
Roboter haben zwar künstliche Knochen, Sehnen etc., doch sie haben kein sympathisches und parasympathisches Nervensystem, sie haben keinen Nervus Vagus. Sie können entsprechend nicht ihren Körper von innen fühlen (deshalb ist aus der Logik der KI-Forschung der Körper nicht von Relevanz. Deshalb ist es folgerichtig, dass das EU-Projekt „Neurorobotics“ ein Gehirn ohne Körper simulieren will). Sie können perfekt funktionieren, doch nicht durch gefühlte Innenwahrnehmung, sondern durch Mechanik, die sich selbst immer perfekter funktionalisiert und optimiert (was auch eine Leistung ist).
Körper zu erfahren ist etwas anderes als zu wissen, welche Bewegung welcher Bewegung folgt.
Forscher wollen Roboter dazu motivieren, dass sie nach allem möglichen greifen und damit spielen. Auch das Kind lernt, nach allem möglichen zu greifen und damit zu spielen. Doch manchmal erfährt es dadurch auch Schmerz und Leid. Schmerz und Leid bilden natürliche Barrieren. Werden Roboter Grenzen kennen und bei anderen Wesen Grenzen akzeptieren? Kann sich ohne Grenzerfahrung eine Ethik entwickeln? Ist ein Umfeld ohne (mit)fühlende Wesen ein lebenswertes Umfeld?
Einsicht durch Bewusstsein
Forscher erhoffen sich, über Roboter zu erfahren, wie der Mensch zu Bewusstsein kommt. Doch wie kann man es erforschen, wenn der Roboter nicht das ganze Bewusstseinsspektrum eines Menschen entwickeln kann: Nicht das ursprüngliche Bewusstsein, nicht das mystische Bewusstsein, nicht das magische Bewusstsein, und auch nicht das paradoxe Bewusstsein (eine solche Einteilung der Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins geht auf Jean Gebser zurück). Der Roboter kann sich zwar das Wissen über diese Stufen des Bewusstseins aneignen und darüber intelligent sprechen, d.h. Erfahrung dieser Bewusstseinsstufen mental perfekt simulieren, wie er auch Emotionen und Gefühle simulieren kann, doch erleben kann er sie nicht. Folglich kann er auch nicht am Erleben dieser Zustände beim Menschen teilhaben. Er kann vielleicht eines Tages die Bilder von van Gogh perfekt imitieren, doch es werden dennoch andere Bilder sein. Zwischen Kopie und Original liegen Welten.
Kontext vs. Schema
Forscher sagen, dass sie anhand von Robotern erfahren wollen, wie Lernen funktioniert. Damit werden sie sicherlich erfahren, wie Lernen funktioniert. Lernen bei Robotern. Denn wenn man erfahren will, wie Lernen bei Kindern funktioniert, müsste man Kinder und andere lebendige Wesen beobachten. Diese lernen durch leibliche Erfahrung und Wahrnehmung (siehe oben) und immer kontextgebunden. Im Idealfall können sie ihre Handlungen, Worte und Gefühle immer an eine konkrete Situation und an ein konkretes Gegenüber anpassen. Während das schematische Denken eines Roboters durch neue Schematas ersetzt oder spezifiziert wird und damit begrenzt ist, kann sich der Mensch je nach Kontext immer neu erfahren und so auch seinem Gegenüber immer neue Erfahrungen schenken. Man denke an den unerschöpflichen Spielgeist bei Kindern (bis er nicht durch Schule und Erziehung und Nachahmung der schematisch gewordenen Erwachsenen immer mehr reduziert wird).
Realität vs. Frame
Wenn man die Sprache des oben erwähnten Artikels analysiert, so fällt auf, dass sie sich innerhalb eines bestimmten Frames bewegt.
Roboter werden vermenschlicht, wenn von ihnen gesprochen wird, z.B.: Dem Forscher geht ein extrabreites Grinsen übers Gesicht, als wenn er „die ersten Worte seines Kindes gehört hat“. Hier wird nicht direkt gesagt, dass sein Roboter sein Kind ist, doch es wird metaphorisch nahegelegt. Eine Metapher ist immer ein impliziter Vergleich. In diesem Fall: Roboter ist (wie) ein Kind. Diese Metapher ist zugleich auch der Frame, in dem der Leser durch den ganzen Artikel hindurch gehalten wird (z.B. „leuchtende Augen“, „ein kleiner Draufgänger“ (S. 30), „Kerlchen“ (32), „Man könnte sagen, er baut nicht nur einen Roboter, er erzieht eigentlich ein Kind“ (S. 27).
Dass Wissenschaftler oder Journalisten, die diese beobachten, Züge des menschlichen Verhaltens bei Robotern erkennen, kann ein Effekt der Spiegelneuronen bei Wissenschaftlern (oder deren Beobachtern) sein, da sie eben Menschen sind und deshalb in ihrem Gegenüber auch immer etwas Menschliches erkennen werden. Auch wenn ich mein Huhn beobachte, erkenne ich bei ihm Züge des menschlichen Verhaltens, erste Züge der Individualität. Doch ein Huhn ist kein Mensch, auch wenn es Gemeinsamkeiten zwischen Huhn und Mensch gibt. Das Verhalten des Huhns zu studieren, um etwas über das Verhalten des Menschen zu erfahren, wäre genauso vermessen, als wenn ich als Kunsthistoriker Kopien von van Goghs Bildern studieren würde, um über van Gogh selbst etwas zu erfahren. Kopien sagen etwas über das Original aus, nicht umgekehrt.
Doch ohne all diese Argumente in Erwägung zu ziehen und in einem suggestiven Frame ´Roboter ist (wie) ein Kind´ bleibend, kommt der Autor zu einem suggestiven Schlusssatz: „So gesehen ist der Unterschied zwischen beiden (Roboter und Mensch) gar nicht sehr groß“ (S. 32). Das ist ein Wunschdenken.
In Distanz zu sich selbst
Distanz zu sich selbst kann nutzen, doch genauso schaden. Die KI bringt den Menschen dazu, auf sich selbst aus einer gewissen Distanz zu schauen. Der Mensch von heute weiß vieles, vermehrt sein Wissen bis ins Unendliche und verwaltet es auch perfekt. Er kann in der menschenerschaffenen Welt von heute gut funktionieren. Er kann abstrakt denken und in vielen Schematas und Frames sich bewegen. Auch kann er viele Gefühle oder eben deren Fehlen perfekt simulieren, so dass er sie wirklich zu fühlen auch nicht unbedingt braucht. Bei Traurigkeit kann er Glück oder Coolness simulieren und darauf hoffen, dass seine Traurigkeit damit verschwindet. Im Gegensatz zum Menschen werden Roboter Glück nicht vermissen und Leid nicht vermeiden, weil sie weder Glück noch Leid kennen. Roboter müssen nichts erdulden, Menschen schon, z.B. ein sinnloses, unglückliches Leben.
Der Mensch teilt mit der KI Welten des Verstandes, die Welten des mentalen Bewusstseins sind. Aus dieser Bewusstseinswarte kann der Mensch manches über sich selbst erfahren. Z.B. dass er Freiheit braucht: „Man muss dem System die Freiheit lassen, , sich selbst eine Lösung zu suchen.“ (S. 27). Denn wenn man einem Wesen (auch einem Roboter) seinen Willen blockiert, wird es trotzig (S. 30). Zwar haben über die Notwendigkeit des freien Willens schon lange zuvor viele Denker gesprochen, aber sie haben nicht mit Robotern experimentiert. Doch auch diese Erkenntnis ist nutzlos, solange Eltern, Erzieher, Behörden, Bürokraten und auch Politiker nicht bereit sind, dem Menschen diese Freiheit auch zu lassen und ein Miteinander statt Gegeneinander zu fördern.
Der Mensch kann dank KI zu sich selbst in kritische Distanz treten, z.B. kann er erkennen, dass er durch all die Jahrhunderte zu einer einseitig rationalen Ausprägung des mentalen Bewusstseins gelangt ist und damit ein relativ schmales Spektrum des Menschseins auslebt. Er hat z.B. einseitig auf Wissen gesetzt. Damit kann er oft nicht erkennen, dass er sich in seinem Handeln nicht immer an das erworbene Wissen hält. So weiß der Mensch von heute sehr viel über das Kind, doch das hindert ihn nicht im Geringsten, Kindern ihre Kindheit weiter zu zerstören, um sie möglichst früh in perfekt funktionierende Erwachsene zu verwandeln (siehe Film „Alphabet“, Trailer hierzu: https://www.youtube.com/watch?v=GInqHl8MnIU), die ebenso wenig fühlen und wahrnehmen wie viele Erwachsene. Der Mensch wird vermutlich auch nicht den Widerspruch spüren, dass unsere Kultur zwar Roboter vermenschlicht, doch Kinder in Roboter verwandelt, die immer mehr in ihrem Verhalten optimiert werden.
Roboter sind im Vergleich zu Menschen leichter zu handhaben und zu steuern. Vielleicht so erklärt sich, warum es manchen Forscher mehr zu einem Roboter als zu einem menschlichen Gegenüber hinzieht. Mit einem Kind z.B. wird jede Menge emotionellen Zeugs hochgespült, das man(n) am liebsten von sich fernhalten würde (der Psychotherapeut Willi Maurer erzählt in seinem Buch „Der erste Augenblick des Lebens“, wie er am Anfang seiner Laufbahn vor Kindern flüchtete und erst später erkannt hat, warum: Er wollte sich durch Leistung Liebe verdienen und nahm Kinder als Störung bei seiner Arbeit, nicht als Bereicherung, wahr. Doch erst durch Kontakt zu Kindern konnte er seine frühen Traumatisierungen erkennen und heilen). Könnte es sein, dass viele KI-Forscher genau solche Menschen sind, die – vom Schatten ihrer frühen traumatischen Erfahrung mit Menschen angetrieben – zu Robotern (und allgemein zur Technik) flüchten, da sie sich im Umgang mit ihnen sicher fühlen (auch wenn es eine Illusion der Sicherheit ist)? Als KI-Forscher hat man dann nicht nur seine emotionelle Komfortzone, sondern bekommt man auch gesellschaftliche Anerkennung für seine Leistung. Das ist wohl das, was wohl jedermann sich wünscht. Doch hat die Erfüllung dieses Wunsches – individuell wie kollektiv – einen doch zu hohen Preis? Wäre Befriedigung durch mehr Lebendigkeit durch Verlassen der mentalen Komfortzone doch nachhaltiger, tiefer und erfüllender?
Als Ideal des Männlichen galt lange Zeit ein Mensch aus Stahl, ein Stahlin sozusagen, der nichts fühlt, nichts mitfühlt, alles erduldet und dasselbe auch anderen zumutet. Ein Roboter scheint dieses Projekt des Manns aus Stahl nun zu krönen, denn er führt dem Männlichen gewissermaßen sich selbt vor, als wenn er sagen würde: „Sooo, lieber Mensch, so bist du nun geworden“. Wird sich der Mensch in dieses seine stählerne Abbild nun verlieben oder wird er doch noch wagen, sich dem Leben und dem Lebendigen in sich und im Gegenüber zuzuwenden?..