Erwach(s)en aus dem Schneewittchen-Traum

Erwach(s)en aus dem Schneewittchen-Traum

Vor-Geschichte

Seit ein paar Wochen zwingt mich das Leben zu einem umfassenden und detaillierten Rückblick auf die sogenannte Vergangenheit. Es gibt keinen besseren Anlass dazu als ein längerer Aufenthalt im Elternhaus. Auch dazu hat mich das Leben quasi gezwungen: Unerwartet erkrankte mein Vater. Gehirntumor wurde diagnostiziert. Er wurde aus dem Krankenhaus zum Sterben entlassen. Tod und Wiedergeburt ist auch das Thema dieses Beitrags.

Im Gefühlsdschungel

Mit dem Sterben meines Vaters kamen längst vergangene, aber noch nicht verarbeitete und integrierte Themen (meine? die des Familiensystems?) wieder hoch und auch der Seelenwunsch, sie im Feuer der Liebe aufzulösen (wobei eine solche Verarbeitung wahrscheinlich vielschichtig und spiralförmig geht, bis sie – hoffentlich noch in diesem Leben – irgendwann abgeschlossen ist).

Die ersten Tage glichen einem Kampf mit meiner Mutter und meinem Bruder, sodass der tiefe Wunsch nach Frieden und Harmonie alles andere als erfüllbar zu sein schien. Ich war bestrebt, mit ihnen über die mich bewegenden Themen wie Tod und selbstbestimmtes Leben, auch Wut und Hilf- und Schutzlosigkeit zu sprechen, erfuhr aber Zurückweisung. Mir wurde schmerzhaft klar:

Das Bestreben, viele Dinge mit ihnen gemeinsam zu klären, ist naiv, denn sie empfinden das als Angriff. Die ganze Familieninteraktion ist festgefahren wie ein gut eingeübtes Theaterstück, das von ungeheilten Inneren Kindern ausgeführt wird (unter Inneres Kind verstehe ich den emotionellen Körper, der sich in den frühen Jahren unseres Lebens herausgebildet hat und im Erwachsenenkörper weiter lebt, bis er irgendwann durch Liebe erlöst werden kann). Und plötzlich will jemand wie ich aus den vertrauten emotionellen Mustern ausbrechen. Damit gefährde ich ja das so gewohnt ablaufende und vertraute Theaterstück, was sich für meine Mutter und meinen Bruder unbewusst als Bedrohung anfühlt. Und sicherlich auch für mich, denn eine neue Form der Interaktion ist noch nicht da, während die alte sich in ihrer ganzen Wucht und Dramatik noch mal zeigen will. Aber während ich ausbrechen will, stellen sie sich an die Seite des Alten und Vertrauten. Das wiederum triggert mein noch nicht ausgeheiltes Inneres Kind, das immer noch am Märchen, eine glückliche Familie zu haben, festhält und sich aus aller Kraft bemüht, es wahr werden zu lassen. Es will Harmonie, es will gesehen und für seine Erkenntnisse wertgeschätzt werden. Und da es alles andere als Wertschätzung erfährt, fühlt es sich abgelehnt.

Wie sich das anfühlt, habe ich mit voller Wucht in zwei Situationen erlebt, die sich gleich nach unserer Ankunft hier ereigneten.

Vorfall #1: Der Pfarrer

Da der Vater ein paar Tage eher dem Tod als dem Leben näher stand, wurde der Pfarrer gerufen. Der Pfarrer hat dem Vater sichtbar Angst gemacht. Vielleicht verkörperte er in diesem Moment das Jüngste Gericht selbst, da er meinem immer stiller und stummer werdenden Vater – ohne die Situation erkannt zu haben – eine Beichte abnehmen wollte (die Handlung spielt in der Ukraine auf dem Land).

Das hat mich wütend gemacht. Ein Segen hätte gereicht, eine Beichte bei einem Menschen, der nicht sprechen kann und sich im unschuldigen Säuglingszustand wieder befindet, ist völlig daneben. Und das konnte ich meinem Vater ansehen. Er fühlte sich verraten, was er mit einem vorwurfsvollen Blick meiner Mutter gegenüber signalisierte. Um der unangenehmen Situation zu entfliehen, äußerte er in seiner ganzen Unschuld den Wunsch zu pinkeln.

Der Pfarrer sah oder spürte meine Wut und ließ die Frage fallen, warum denn ich wütend sei. Er wollte mir damit manipulatorisch mein Gefühl der Wut verbieten und mich dafür schuldig fühlen lassen. Er hat sich als moralische Instanz aufgeführt, die sich berufen fühlt, ´negative´ Gefühle, das ´Böse´ aus der Welt zu vertreiben. Und in diesem Moment musste ich für ihn das ´Böse´ verkörpert haben. Dass er in meine Innenwelt eingreift und damit übergriffig ist und dass die Wut als Reaktion bereits da war, das sah er nicht. Die Wut war offensichtlich nicht willkommen, durfte in seiner Anwesenheit nicht sein. Ich sagte, dass ich es für nicht angemessen halte, meinen Vater auf diese Weise zu quälen. Und dass ich übrigens Recht auf Wut habe, denn sie kommt nicht umsonst und sie ist wie alle anderen meiner Gefühle o.k.

Der Pfarrer fühlte sich durch meine Grenzziehung offenbar hilflos, auf jeden Fall verunsichert. Das verletzte Innere Kind kam auch bei ihm zum Vorschein. Er musste aber die Rolle des Starken spielen, des moralisch Besseren. So konnte er seine eigene Verusicherung oder auch Wut weder zeigen noch annehmen.

Ein ehrlicher Austausch hätte genügt, wurde aber – des vermeintlichen Schutzes halber – blockiert. Hinzu kam, dass meine Mutter sehr beschämt und vorwurfsvoll auf mich blickte. Sie hielt nicht zu mir, sondern zum Pfarrer. Sie hielt zu einer Autorität statt zu ihrem Kind. Sie wollte auch danach nicht wissen, warum ich wütend war und was ich gesehen und beobachtet habe. Meine Erkenntnisse zählten für sie nicht. Sie wendete halben Tag ihren Blick von mir ab. Sie hat sich für mich (eigentlich für sich, da ich ihr Kind bin) geschämt. Auch mein Bruder tat dasselbe. Auch er schämte sich für mich. Auch er wollte mit mir nicht darüber sprechen.

Schweigen ist ein sicherer Weg, etwas für eine weitere Zeit im Unbewussten verschwinden zu lassen…

Vorfall #2: Die Tante

Am nächsten Tag stattete die Tante meinem Vater ihren Besuch ab. Gleich nach der Ankunft machte sie mir ein schlechtes Gewissen (als ob das der wahre Grund ihres Besuchs wäre), dass ich mich einst über den Vater geärgert habe (dies ist eine sich längst ereignete Geschichte, die sie aufgegriffen hat), nach dem Motto: „Dein Vater hat ständig für dich gebetet und du bist so undankbar.“ Auch sie hat impliziert, dass ich mich mit meinen ´unbequemen´ Gefühlen damals hätte so nicht zeigen dürfen. Denn ich sei ein Kind meiner Eltern und Eltern hätten immer recht, war ihr Standpunkt. Nach dieser Belehrung war die Wut im Nu wieder da. Und durfte sich natürlich wieder nicht zeigen. Um mein Recht auf die Wut und ihre Daseinsberechtigung zu verteidigen, äußerte ich auch der Tante gegenüber mein Recht auf meine Gefühle und darauf, sie ehrlicherweise zeigen zu dürfen. Ist denn die Ehrlichkeit nicht der erste Schritt zur authentischen, wahrhaftigen Kommunikation, die alle Beteiligten weiterbringt, allen Beteiligten Mut macht, sich so zu zeigen, wie sie gerade sind? Sind wir denn alle auf ewig dazu verdammt, nur ein schönes Bild von uns geben zu müssen und das vermeintlich Schlechte zu verbergen? Und ist denn das, was wir selbst vor uns und vor anderen verbergen, wirklich dann weg? Ist es denn nicht einfacher und effektiver, sich ehrlich in die Augen zu schauen und zu sagen: Ja, ich spüre gerade Wut.

Auch diesmal ein beschämter, verurteilender Blick meiner Mutter, voller Schrecken. Wieder bringe ich ihre Vorstellung von einer perfekten Familie ins Wanken. Wieder mal bin ich kein stilles, braves Mädchen, das ich als Kind stets nach außen gab (dass das mich später fast Magengeschwür und noch später Burnout kostete, sieht meine Mutter nicht…). Das Image, das Bild nach außen zählte damals und jetzt.

Verheimlichen, fliehen, verbergen, beschönigen ist eine individuell wie kollektiv beliebte Strategie.

Ich erlaube mir anhand dieser Vorfälle eine kleine Verallgemeinerung: Weder auf der Ebene der Familie noch kollektiv (sogar in der Seelsorge) haben ungelöste und ungeheilte Themen des Inneren Kindes einen sicheren Platz, weshalb diese sich zwanghaft in bestimmten, emotionell aufgeladenen Situationen immer wieder reinszenieren müssen. Das Innere Kind kommt dann wie aus dem Nichts zum Vorschein und wird wieder mal mit Verurteilung und Zurückweisung bestraft.

Dabei will es nur das zeigen, was es damals hat weder sagen noch zeigen können und dürfen. Wenn das Innere Kind damals hätte reflektiert sprechen können, so hätte es in etwa Folgendes gesagt:

„Ihr nehmt mich nicht ernst. Ihr seht und hört mich nicht. Ihr verletzt ständig meine Grenzen, nur weil ich noch jünger als ihr bin. Ihr haltet nie zu mir, sondern zu einem Anderen, nur weil er stärker ist und mehr Macht hat. Ihr überhört mich und schaut zu vermeintlichen Autoritäten hoch, während ihr mir am liebsten den Mund zumachen würdet, denn ich bin für euch nicht wissend und inkompetent. Ihr denkt, dass meine Wahrnehmung falsch ist und dass die des Pfarrers oder Arztes oder Lehrers richtig und bedeutsam ist. Dabei nehmen sie doch gar nicht wahr, was ich wahrnehme. Das macht mich wütend und verzweifelt, denn ich finde keine Worte, euch mit meinem Wesen zu erreichen und zu berühren.“

Ich bemühte mich aus der Überzeugung, so wie ich bin nicht ok zu sein, ein Leben lang anders zu sein als ich gerade war, um zu gefallen und ein wenig Anerkennung zu bekommen. So war ich immer lieb, nett, zuvorkommend, hilfsbereit, perfekt, angepasst.

Hätte ich also dem Pfarrer und der Tante gegenüber nett gelächelt, so wäre ich von ihnen scheinbar angenommen. Aber nur scheinbar. Und mit Scheinbarkeiten will ich mich nicht mehr zufrieden geben, mit einem Bild nach außen auf Kosten eines authentischen, selbstehrlichen Ausdrucks von innen heraus.

Ich nehme mich deshalb meiner Schneewittchen-Vergangenheit an, um sie zu erkennen und zu würdigen. Dabei will ich niemand Schuld dafür geben, denn ich erkenne an: Sie durfte so sein, wie sie war, denn ohne sie wäre ich nicht da, wo ich gerade bin.

Das Schneewittchen

Ohne das Buch von Alice Miller unter dem Titel „Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst“ hätte ich die Not meines Inneren Kindes nicht so deutlich erkannt. Nach der Autorin leben Traumata des Inneres Kindes als Träume, Phantasien und Märchen weiter. Besonders nah geht mir seit einiger Zeit das Schneewittchen-Märchen, denn darin erkenne ich mich als Kind.

Die wichtigste Erkenntnis aus diesem Buch ist die, dass Eltern nicht absichtlich ihre Kinder verraten. Der Verrat ereignet sich unbewusst, also vor ihnen selbst verborgen. Denn sie können ihre Kinder nur in dem Maße verraten, in dem sie selbst verraten worden waren und in dem sie das bei sich selbst nicht erkannt und mental-emotionell verarbeitet haben. Insofern hatten sie ja auch ungeheilte kindliche Anteile und mussten zwangsläufig ihre Traumata weiter vererben. Deshalb ist da niemand schuld, aber jeder eigenverantwortlich, sich seinem emotionellen Erbe zu stellen, das ja unser kollektives ist.

Es war einmal eine Königin

Jede Frau ist schön und jede Frau will Liebe verschenken. So waren die Mutter vom Schneewittchen oder meine Mutter keine Ausnahme. Sie träumten aufrichtig davon, ihre Tochter zu lieben, waren aber selbst verletzt (dafür steht symbolisch die Verletzung am Finger der Königin im Märchen): Ihnen wurden sehr früh Zweifel an ihrer eigenen Schönheit eingepflanzt und ihre Liebe wurde frühzeitig nicht angenommen und vergiftet. Und deshalb mussten sie die ihnen einst zugefügten Verletzungen unbewusst mit ihren eigenen Töchtern reinszenieren (solche Rollenspiele finden so lange statt, bis sie gesehen und gefühlt werden; erst dann verlieren sie an ihrer Zwanghaftigkeit). Bis dahin wirken sie wie ein Fluch. Wie das Schneewittchen konnte auch ich diesen Flüchen nicht entrinnen.

Fluch des Vergleichens

Die Mutter des Schneewittchens war eine unsichere Mutter. Sie handelte nicht aus dem Herzen, sondern nach Vorgaben. Sie hat ihre Intuition gegen das ausgetauscht, was Andere bzw. Normen, jedenfalls eine Instanz von außen, sagten. Dafür steht im Märchen das Symbol des Spiegels, in den die Stiefmutter regelmäßig schaut. Sie will eine perfekte Mutter sein und ein perfektes Bild von sich geben. Sie vergleicht sich deshalb stets mit Anderen und auch mit ihrer Tochter, um besser abzuschneiden. Sie hat ein Bedürfnis, besser, perfekter zu sein, um das auszugleichen, was ihr zu ihrer Zeit gefehlt hat.

Ein Beispiel: Meine Haare konnten nie mit denen meiner Mutter mithalten, da sie nicht so lockig waren, wie sie meine Mutter als Kind hatte. Es wurde mir vermittelt, dass hier und da mein Körper oder mein Verhalten nicht perfekt waren, sodass ich meinen Körper und meine Wirksamkeit nicht bedingungslos annehmen konnte. Daraus folgte, dass mir die Freude, mich so zu zeigen, wie ich war, vergiftet wurde. So igelte ich mich sehr früh ein und fühlte mich am besten und am freisten, wenn mich niemand sah. Und unter Menschen bemühte ich mich, freundlich zu sein und einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Wie das Schneewittchen habe ich frühzeitig vergessen, eine Prinzessin zu sein, ein einzigartiges Geschöpf Gottes, einmalig und unendlich von der Existenz geliebt. Nicht umsonst trägt das Schneewittchen bei den Zwergen Bettlerkleidung. Ihr königlicher Status ist passé. Sie fühlt sich nur noch schuldig und beschämt. Nicht umsonst sagt sie zu den Zwergen: „Mein Name ist Schneewittchen. Es tut mir leid, dass ich euer Haus betreten habe. Ich will nichts Böses.“

Es musste ihr bereits vermittelt worden sein, dass sie schuldig war. Wie kann sie sich danach noch unschuldig und schön fühlen?

Da das emotionelle Band zwischen Mutter und Kind in dieser ersten Entwicklungsphase so eng ist, wirkt der Vater wie abwesend. Genauso war es auch bei mir.

Fluch des Alleingelassenwerdens

Die Vertreibung aus dem Schloss steht symbolisch für die Vertreibung aus dem authentischen So-Sein, dem paradiesischen Zustand der Reinheit und Unschuld. Sie geschieht durch allerlei explizite und implizite Anweisungen, wie man zu sein hat, denen allen die Botschaft zugrunde liegt, dass man so, wie man gerade ist, nicht in Ordnung ist.

Die Rolle der Komplizen (= Jäger im Märchen) erfüllen allerlei Autoritätspersonen. Sie alle führen das Schneewittchen in einen dunklen Wald der Emotionen und Gefühle, mit denen es allein gelassen wird. Wut, Eifersucht, Trauer zum Beispiel… Sie erlebt, abgetrennt, allein in der ganzen Welt zu sein. Und dies bedeutet gefühltes Alleingelassenwerden. Sie stirbt physisch zwar nicht (die Jäger haben Erbarmen mit ihr), kämpft aber um das Überleben.

Fluch des Sichverdienenmüssens und des Perfektionismus

Was macht das Schneewittchen, wenn es fernab von ihrem wahren Selbst landet? Ja, sie fängt bei den Zwergen an, aufzuräumen. Sie definiert sich über erledigte Arbeiten und erfüllte Pflichten. Sie ist hingegeben an die Arbeit und tut alles aus vollem Herzen. So war es auch bei mir. Auch ich habe mich wie das Schneewittchen sehr sehr bemüht. Dies öffnete später und allmählich Tür und Tor einer Überforderung und bereitete den Boden für ein späteres Burnout. Aber zu jener Zeit wusste ich nicht einmal, dass ich mich selbst überforderte. Ich konnte nur noch stoppen, wenn es weiter nicht ging, wenn ich weiter nicht mehr konnte. Bis dahin war nie genug. Sich selbst überfordern, um das beste Ergebnis zu erreichen, um gesehen zu werden, wurde im Körper-Seele-Geist-System zur Norm. Zumal die Arbeit eine willkommene Droge war, die mich meine emotionelle Not vergessen ließ…

So habe ich rechtzeitig gelernt, Außergewöhnliches zu leisten und meinen Wert über Gelobtsein von den Älteren zu beziehen. So habe ich auch gelernt, zuerst auf Bedürfnisse von anderen zu achten und meine regelrecht hinten anzustellen, mich damit klein zu machen. Denn in meinem So-Sein war ich ja nicht ok („Du bist wie dein Vater“, bekam ich zum Beispiel häufig zu hören). Und Lob muss man verdienen, man muss sich anstrengen.

Wie Freude gegen Sich-Verdienen ausgetauscht wurde, kann ich mich anhand meines Musikunterrichts erinnern. Zuerst hatte ich richtig Spaß am Bandura-Spielen (Bandura ist ein ukrainisches Saiteninstrument), dann bekam ich den Druck sowohl zu Hause zu spüren („Du sollst jetzt üben“) als auch durch den Chorleiter, der große Ambitionen bezüglich des Chors hatte. Wie freudlos ich dann geworden bin, zeigt dieses Bild, auf dem ich bei einem Auftritt angespannt und verängstigt wirke:

Wie hätte das Schneewittchen unter solchen Bedingungen ein starkes Selbstwertgefühl entwickeln können? Wie hätte es eine Heimat in sich und in dieser Welt finden können?

Eine späte Folge davon war, dass mich stets ein unstillbarer Hunger jagte, irgendwo anzukommen, irgendwo mich heimisch zu fühlen. Damals konnte ich ja nicht ahnen, dass der einzig mögliche Ort dafür in mir war und durch Selbstablehnung bereits vergiftet war.

Fluch des Nicht-Vertrauens

Wie das Schneewittchen lernte auch ich, dass die Welt kein sicherer Ort ist und dass man sein Herz am liebsten verschließen soll (im Märchen steht dafür das Haus, das sie nach Anweisung der Zwerge stets verschlossen halten sollte). Und doch traut sie sich einmal, öffnet das Herz, aber dem/ der Falschen (= der Hexe). Nun ist sie endgültig vergiftet und abgetrennt, wofür im Märchen der Sarg aus Glas steht. Es ist ein Zustand, wenn du dich physisch zwar bewegst, aber nicht mehr authentisch lebst.

Auf ewig verflucht?

Das Wort Fluch geht auf lat. plangere ‘schlagen, die Hand auf die Brust schlagen, laut trauern, wehklagen’ zurück. Die Handlung des Fluchens resultierte offenbar aus einer starken emotionellen Ladung, wenn das System nichts anderes tun konnte, als den, der einen so stark verletzt hat, laut oder im Stillen zu verfluchen. Das Opfer stellt auf diese Weise prompt die Gerechtigkeit wieder her. Was situativ und konkret in einem bestimmten Augenblick Sinn ergibt und anders gar nicht geht, ist auf Dauer selbstzerstörend. Das heißt: Erzähle ich mir das ganze Leben lang die Geschichte, dass mir damals ein Unrecht passiert ist, an dem der oder die schuldig ist, fühle ich mich dauernd als Opfer und schleppe meine Opferrolle weiter mit. Ich verpasse die Gelegenheiten, die mir das Leben schickt und die Signale, die es immer sendet, um aus meiner damaligen Opferrolle auszusteigen und um der Wahrheit ins Gesicht zu schauen: Ja, damals war ich in der und der Situation Opfer, aber jetzt muss ich kein Opfer mehr sein.

Die oben genannten Flüche haben in dieser oder anderen Form viele (alle?) erfahren, was meine inneren Wunden keineswegs lindert, da ich sie damals individuell erlebt habe und sie deshalb auch individuell heilen muss. Meine Eltern, meine Lehrer, meine Freunde… Deshalb ist die Welt im Moment so, wie sie ist… Es steckte also keine böse Absicht von jemand, mich damals leiden zu lassen. Und niemand ist da, wer mich jetzt leiden lassen will. Ich leide, wenn ich weiterhin unter der Einwirkung der oben aufgezählten Flüche lebe. Denn jeder dieser Flüche vergiftet mein System Tag für Tag und zwingt mich in immer dieselben Situationen, um erkannt zu werden. Welche Botschaften haben diese Flüche in mich eingepflanzt? Welche Folgen haben sie für meine Erfahrung?

Fluch

verinnerlichte Botschaft

Folge in der Außenwelt für mein Leben

Fluch des Vergleichens

Ich muss mich an äußeren Spiegeln orientieren; ich kann und darf nicht meiner Intuition, meiner inneren Führung vertrauen

mein Leben als mein ganz individueller Spielplatz wird durch Andere gesteuert

Fluch des Allein-Gelassen-Werdens

Niemand ist für mich da; ich bin allein

Ich lebe in der Angst, allein gelassen zu werden und übersehe, wie mir die Göttliche Intelligenz immer wieder jemand schickt, der im nötigen Moment für mich da ist; ich kreiere unbewusst immer wieder die Situationen des Verlassen-Werdens, um das damalige Trauma zu erlösen

Fluch des Sich-Verdienen-Müssens

Ich bin nicht richtig und nicht genug; ich muss mich beweisen; mit dem, wie gerade bin und was ich gerade kann, habe ich keinen Wert

Ich erschaffe mir unbewusst ein Leben voller harter Arbeit und Situationen, in denen ich mich verdienen und beweisen muss

Fluch des Nicht-Vertrauens

Ich muss mich schützen und verstecken; die Welt ist ein gefährlicher Ort

Ich erschaffe mir unbewusst Situationen, die mein Vertrauen erschüttern und ziehe Menschen an, die mich verraten und im Stich lassen

Ich frage mich nun, ob es möglich ist, aus dem Schneewittchen-Traum aufzuwachen und die eingeübten Reinszenierungen und die blockierenden Glaubenssätze hinter sich zu lassen. Das Schneewittchen-Märchen legt zwei Ausgänge nahe: den Scheinausweg und einen erlösenden Weg.

Der Scheinausweg

Aus der Jetzt-Perspektive des verletzten Inneren Kindes sind Emotionen wie Wut, Trauer oder Eifersucht ein ´dunkler Wald´ und deshalb zu vermeiden. Kinder haben eine reiche Phantasie und flüchten schnell in ihre Phantasiewelten. Sie träumen. Zum Beispiel von einem Traumprinzen oder einer anderen Welt. Solche Träume beziehen sich stets auf einen späteren Zeitpunkt, einen anderen Ort und auf andere Menschen. Sie dienen dazu, das unbehagliche Jetzt zu verlassen. Das Innere Kind weiß nichts davon, dass genau die vergifteten Glaubenssätze es an schöneren Erfahrungen hindern.

Der Weg der Erlösung

Der Weg der Erlösung aus den alten Mustern ist aus der Jetzt-Perspektive des Inneren Kindes keineswegs einladend und wird deshalb automatisch blockiert. Denn dieser Weg führt durch den emotionellen Urwald hindurch. Es fühlt sich erstmal als Hölle an, als Tod. Und wirklich müssen die in früher Kindheit von den Eltern und Älteren übernommenen Glaubenssätze eigenhändig erkannt, betrauert und begraben werden. Und die Liebe des Prinzen ist nicht die Rettung (das wäre der Scheinweg, ein Hilfeschrei nach  außen), sondern erst eine Belohnung.

Denn zuerst müssen all die Mängel und Gegenpole erfühlt und ohne jede Bedingung angenommen werden. Wie einst Eckhard Tolle in einem seiner Videos gesagt hat: Zuerst muss man den hässlichen Frosch küssen.

Der Prinz steht im Märchen also zuerst keineswegs für einen Traumprinzen, sondern sehr banal und nüchtern für den Gegenpol, für den Ausdruck der Polarität. So ist ´männlich´ nicht nur polar zu ´weiblich´, sondern auch ´Trauer´ ist polar zu ´Freude´ etc. Der erlösende Weg geht also durch die Versöhnung mit dem jeweiligen Gegenpol, mit dem, was ich auf keinen Fall haben und fühlen wollte.

Zum Beispiel ist es total ungemütlich, sich in manch einer Situation wieder als Opfer zu fühlen, geschweige denn als Täter (die gesellschaftlich-religiöse Norm hat einen Opferkult etabliert, während Täter verdammt und bestraft wurden). Denn Opfersein ist zwar auch kein schönes Gefühl, aber zumindest gesellschaftlich konformer. Auch erlaubt es mir, weiterhin keine Verantwortung für mein Empfinden/ Handeln/ Denken zu übernehmen, denn es ist stets der Andere, der mich quält😉.

Aber wenn ich selbstehrlich bin, so bin ich weder Opfer noch Täter. Oder noch realistischer: Ich war in meinem Leben sowohl Opfer als auch Täter. Mal dies und mal jenes (ich habe zum Beispiel als Kind oft Tiere stellvertretend bestraft…). 

Und dann beweine ich meine Opferrolle, erkenne sie an, würdige sie. Ich beweine mich selbst am Kreuz wie einst Jesus.

Wie paradox das auch klingt, erlebe ich in solchen Momenten der größten Hilflosigkeit oft meine Wirksamkeit. Nicht nur dadurch, dass ich mir einen selbstehrlichen Blick auf das Damals erlaube und zu fühlen und weinen bereit bin, sondern auch – und diese Momente liebe ich – ich verleihe solchen Leidenssituationen einen neuen Sinn.

Neulich habe ich bei Ulrich Warnke („Quantenphilosophie und Spiritualität“) gelesen, dass das Unterbewusste durch Geschichten genährt und geprägt wird und dass es keine zeitliche Achse kennt. Denn Zeit existiert nur für den linearen Verstand, während Gefühle und Emotionen wirbelnd, kreisend, sich ausdehnend oder sich verengend wirken. Daraus ergibt sich, dass das Innere Kind kein Konzept der Zeit kennt; damit kennt es auch kein Damals, sondern erlebt alles noch jetzt als real. Und wenn das so ist, so habe ich in jedem Jetzt, in dem sich etwas von früher zeigt, einen realen Zugriff auf das entsprechende Gefühl.

Im Moment übe ich mich darin, diese Schneewittchen-Gefühle zu erlösen. Mir hilft dabei das Buch von Michael Brown „Die Kraft gelebter Gegenwart“.

Bei der Sinnzuschreibung lasse ich hingegen meiner Phantasie und meiner gefühlten Wahrnehmung freien Lauf. Es kommen dann neue Geschichten zustande, wie zum Beispiel folgende.

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Ich habe mich bereitwillig dazu entschlossen, mich in die Hände meiner Eltern zu begeben, um ihre Puppe zu sein, mit der sie spielen durften, um das zu (re)inszenieren, was sie bei sich noch nicht erkannt haben. Ich habe mich damals aus eigener Entscheidung klein gemacht, denn ich bin ein Teil des Lebens. Und das Leben hat kein Problem damit, mal klein wie ein Glühwürmchen und mal groß wie ein Stern zu sein. Und das Leben hat, wenn es etwas tut, nicht nur mich und meinen eigenen Fortschritt vor Augen, sondern aller, die in meiner Umgebung sind. Ich habe auf diese Weise eine unglaublich wertvolle, ja unersetzliche Rolle im großen Schauspiel des Lebens gespielt. Ich habe eine Hilflose, Kleine, den Anderen Ausgelieferte sehr authentisch gespielt. Und durch meinen Beitrag kann nun nicht nur ich etwas erkennen, sondern auch andere bekommen eine Gelegenheit dazu.

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Ich habe mich bereitwillig dazu entschieden, die ´nächtlichen´ Emotionen (die wir alltagssprachlich als ´negativ´ oft bezeichnen) zu erfahren. Wie sich ein Glühwürmchen dazu entscheidet, durch die Nacht zu fliegen und mit seinem winzigen Körper in sie hineinzuleuchten.

Weder ich noch meine Mutter noch mein Vater waren die eigentlichen Akteure, sondern das Leben, das Große Ganze. Es war der eigentliche Regisseur des Schneewittchen-Märchens und wie es mich in diese Rolle hineingeführt hat, so führt es mich wieder raus;) Dafür wird das Gesetz der Vergänglichkeit sorgen, nach dem alte Bettlerkleider problemlos gegen Prinzessinnen-Gewänder ausgetauscht werden können. Ich übe mich bereits jetzt in meiner neuen Prinzessin-Rolle und entscheide mich für mein verlorenes Königreich jeden Tag aus Neue:) Auch wenn manche Tage mich weiterhin von der alten Rolle überzeugen wollen…

 

 

 

 

 

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