Ein Tier in mir
Meine tierischen Freunde und Lehrer
Ich hatte viele tierische Freunde und Lehrer. Ob das an meiner Hochsensibilität lag oder daran, dass ich am besten Ort der Welt aufgewachsen war?.. Vielleicht beides😊.
Der Zauberort meiner Kindheit war das Grundstück meiner Großeltern bei Lwiw/Lemberg in der Westukraine. Es war von vielen Zauberwesen belebt und beseelt. In heißen Sommernächten riefen sich Eulen von Baum zu Baum zu (eine junge Eule übernachtete (d.h. ´übertagte´😊) auf einem jungen Bäumchen und ich durfte in ihre großen, tiefen Augen hineinschauen). Am Abend wirbelten Igel auf Nahrungssuche das hohe Gras auf. Am Tag nahmen Hühner das Grundstück in Beschlag (Zäune gab es damals nicht und sie wagten in ihrem Freiheitsdrang sogar Nachbargrundstücke zu erkunden😉). Im Stall nisteten Schwalben über der Kuh und flogen rein und raus, während ich geduldig mit einer Tasse in der Hand auf frisch gemelkte Milch wartete.
Durch all die Jahre habe ich vieles mit verschiedenen Tieren erfahren, nicht zuletzt über mich selbst.
Ich lernte unter anderem Küken zu bemuttern. Sie machten manchmal auf meiner Schulter ein Nickerchen oder ließen sich von mir durch ein zartes Streicheln am Hals in hypnotische Zustände versetzen.
Ziegen brachten mir sowohl Durchsetzungsvermögen als auch Empathie bei. Als ich einst in einem tiefen Kummer in ihrer Nähe kauernd weinte, spürte ich unerwartet eine zarte Berührung an meiner Schulter. Eine Ziege bekundete so ihre Anteilnahme..
Kaninchen brachten mir tiefe seelische Verbundenheit und eine gute vegane Ernährung bei. Im Gegenzug sorgte ich dafür, dass sie sich frei auf dem Grundstück bewegten. Im Gegenzug retteten sie mich aus der Depression..
Eulen lehrten mich im Dunklen sehen.
Grillen lehrten mich weite Sprünge trotzdem zu wagen und Freude im Kleinen zu entdecken.
Ein Schmetterling, der plötzlich im Winter zum Leben erwacht war, brachte mir Offenheit für Überraschungen bei und dass Wandlung auch im tiefsten Winter geht.
Durch all die Jahre und all die Begegnungen habe ich viele tierische Prägungen an mir erkannt. Ich habe erfahren, dass ich immer etwas mit einem Tier gemeinsam habe. Manchmal bin ich scheu wie ein Reh und manchmal mutig-aggressiv wie ein Hahn. Manchmal bin ich schnell wie ein Hase und manchmal langsam wie eine Schnecke. Ich habe gelernt, dass all diese Eigenschaften wert- und sinnvoll sind.
Der Mensch das Göttliche Tier
Heute ist der 7. Januar und damit der erste Weihnachtstag in meiner Heimat. Heute denke ich viel an meine schönsten Weihnachtserlebnisse zurück. Daran zum Beispiel, wie meine Großeltern bei Dämmerung Heu ins Haus brachten. Wie sie es unter die Tischdecke legten (als Erinnerung, dass Jesus im Stall geboren wurde). Wie wir am Heiligabend nach dem Essen und dem Singen von Weihnachtsliedern einen obligatorischen Besuch bei den Tieren abstatteten und mit ihnen unser Essen teilten. Es hieß, dass Tiere in dieser besonderen Nacht sprechen würden..
In der ukrainischen Weihnachtstradition spielen Tiere eine herausragende Rolle. So gibt es im ukrainischen Wertep (dem traditionellen Weihnachtsschauspiel) eine bärtige Ziege als Figur.
Wertep vereinigt in sich alle Kräfte, lichte wie dunkle. Es gibt Engel und es gibt Teufel. Es gibt den Tod mit der Sense und es gibt den Weihnachtsstern und das Jesuskind. Es gibt macht- und geldgierige ´Tiere´ (z.B. Herodes) und es gibt lebensspendende ´Tiere´ (z.B. drei Könige).
Als Kind durfte ich sogar einmal die Rolle einer Hirtin spielen. Diese Rolle lag mir nahe, denn ich war in meinen Sommerferien für die Ziegen bei der Oma zuständig. Die Ziegen offenbarten mir mein licht-dunkles Doppelwesen: Meine zarte, fürsorgliche Seite, aber auch meine aggressiv-dominante Seite 😊☹
Wertep bedeutet übrigens sowohl eine Höhle als auch eine geheime Unterkunft, in der sich allerlei Übeltäter trafen, um ihre Orgien zu feiern. Und diese Doppeldeutigkeit des Wortes weist unvermittelt und unmittelbar auf eine körperliche Thematik hin. Warum? Weil unser erstes Zuhause auf diesem Planeten die Höhle des mütterlichen Schoßes war. Und weil unser aller Leben auf eine Liebesorgie zwischen unseren Eltern zurückgeht..
Deshalb geht Orgasmus nicht zufällig auf orgia zurück:
„Das Wort „Orgasmus“ erinnert uns also auf der sprachlichen Ebene an unsere eigenen, bis in die Frühzeit zurückreichenden Wurzeln, als die Menschen in großen Gruppen zusammenkamen, um in gemeinsamen Ritualen einen Zustand der Ekstase herbeizuführen. Das Zelebrieren von orgia war ein Weg, um Mutter Erde zu hundigen, ihr die Dankbarkeit zu erweisen und das Wunder ihrer Schöpfung zu feiern. Mit einfachen Tanzschritten und Gesängen zum rhythmischen Schlagen der Trommel wurde tagelang ohne Unterbrechung gefeiert, bis alle trunken waren von göttlicher Ekstase und glückselige Zustände erhöhter Sinnlichkeit und Empfindsamkeit erlebten. Wer an diesen Zeremonien teilnahm, kam verjüngt und überfließend vor Liebe und Lebenslust daraus hervor.“ (Diana Richardson: „Zeit für Weiblichkeit“, 2015: 28)
Tiere lehren uns aber nicht nur paradiesische Lust und Freude, sondern auch deren Gegenteil: Schmerz, Hass, Aggression..
Thomas Harms, der als Primärtherapeut mit traumatisierten Babys arbeitet, sagt, dass wir Menschen diese Gefühls-Extreme heutzutage vermeiden und ihnen meist keinen Raum mehr geben, dass Eltern einen emotionellen Ausdruck bei Babys (unbewusst) blockieren, weil dieser sie (unbewusst) an ihren eigenen unterdrückten Schmerz erinnert. Er sagt, dass wir für diese Unterdrückung eines vollen Gefühlsspektrums einen teuren Preis bezahlen. Denn uns geht unsere Lebendigkeit verloren. Lebendigkeit definiert er als „Offenheit und Tragfähigkeit für beide Seiten des Lebendigen, für den Schatten und das Licht.“ (unter https://www.youtube.com/watch?v=Ibw4nOVyWSo&list=TLPQMjgxMjIwMjCuDporaXzuNw&index=2 ab ca. 29. Min.)
Vom Tierischen zum Göttlichen
Tier geht auf das gotische dius und das germanische *deuza– zurück, das z.B. mit dem altslawischen duša (Seele, Geist, Leben) verwandt ist. Dem liegt die indoeuropäische Wurzel *dheus-, *dhū̌s-, *dhu̯ē̌s– zugrunde, deren Bedeutung unter anderem atmen ist. Das Tier ist also das lebendige atmende Wesen (vgl. lat. animal ´Geschöpf, Lebewesen, Tier’ und lat. anima ‘Lufthauch, Atem, Seele, Leben’).
Das Alte Testament stellt das Tier als dem Menschen ebenbürtig dar, wenn es heißt: „(…) und einen Odem haben sie alle. Der Mensch hat vor dem Tier keinen Vorzug.“ (Prediger 3, 19)
Der bekannte Theosoph Rudolf Steiner geht in seiner „Akasha-Chronik“ der Verknüpfung und Zusammenwirkung alles Lebendigen nach. Demnach hat der Mensch mehrere Körper, darunter einen ´tierischen´, der der Astralkörper heißt. Als „Menschentier“ lernt der Mensch die geistige Dimension der Selbstheit bzw. der Selbstsucht kennen, auch als Ego bekannt.
In vielen (den meisten? allen?) spirituellen Richtungen wird diese Dimension ´verteufelt´. Die vorherrschende Ideologie besagt, dass das Ego der Grund allen Übels und deshalb zu überwinden ist. Dies führt dazu, dass der Mensch unbewusst einen tiefen Selbsthass auf seine bestimmten tierischen Anteile spürt und sie deshalb unterdrückt oder bekämpft. Damit zieht er unbewusst in den Krieg gegen sich selbst. Dem liegt aus meiner Sicht ein abgrundtiefes Missverständnis zugrunde.
Es ist nicht das Ego, das böse ist. Es ist eine fehlende Selbstannahme MIT dem Ego, das das Ego böse werden lässt. Und es ist kein Wunder, dass wir es so schwer haben, uns mit unserem Ego anzunehmen. Liest man über die Geschichte der Kindheit in Europa (z.B. den Klassiker von Lloyd deMause „Hört ihr die Kinder weinen?“ oder Alice Miller „Das Drama des begabten Kindes“), stehen einem die Haare zu Berge, durch welche Höllen Kinder gehen mussten, weil sie einem bestimmten Ideal nicht entsprachen und zu ´tierisch´ waren. Man wollte ihnen mit allen erdenklichen und nicht denkbaren Mitteln und Foltermethoden den imaginären Teufel austreiben. Was sie an Demütigung, Peinigung und Terror erlebt haben, weiß wohl der Himmel allein. Wie ihre physische Unterlegenheit ausgenutzt wurde, auch. Was sie an Traurigkeit, Wut und Eifersucht unterdrücken mussten, weil ihre – scheinbar erwachsenen – Bezugspersonen selbst nicht imstande waren, diese Emotionen bei sich selbst auszuhalten und in Arm zu nehmen. Und deshalb haben all diese liebeshungrigen, weil in ihren Teilen abgelehnten, Kinder gelernt, genau diese Teile von sich selbst abzulehnen. Wenn jetzt viele Spirituelle daherkommen und „tötet euer Ego!“ sagen, dann sagen sie im Grunde genommen: Setzt mit der Selbstunterdrückung weiter fort .
Doch ich glaube nicht, dass diese Methode funktioniert, da sie bis jetzt nicht funktioniert hat.
Ich übe mich darin, mich (und andere) in meinen (und ihren) tierischen Anteilen anzunehmen und als Geschöpf Gottes zu würdigen. Ich gehe MIT dem Tierischen zum Göttlichen, nicht ohne, denn wenn ich das Tierische töte, fehlt dem Göttlichen die Basis und es herrscht zwischen ihnen ein Kriegszustand. Erst ein befriedigtes Tierchen in mir gibt mir wirklich Frieden, denn es ist be-friede-t. Ich bin nicht mehr bereit, es irgendeiner Ideologie zuliebe zu opfern. Denn ich fühle mich dafür, was auf diesem Planeten geschieht, mitverantwortlich. Ich kann nicht mehr zusehen, wie ´tierische´ Anteile in den Schatten verdrängt werden und von dort aus erst recht gemein und gefährlich werden.
´Ausrottung´ ist keine gute Lösung. Beispielsweise bezahlen viele einen teuren Preis dafür, dass sie ihr inneres ´Raubtier´ töten. Vielen fehlt dann an innerer Kraft und Aggressivität (= Kraft zum Voranschreiten, lat. gradī ‘schreiten’ und ad– ‘zu, heran´), sodass sie möglicherweise in eine Depression oder Regression fallen. Wegsperren, Verdrängen oder Ausrotten war und ist zwar manchmal eine Notlösung, doch keine wirkliche Lösung. Eine wirkliche Lösung ist eine bewusste Auseinandersetzung mit dem ´tierischen´ Schatten. Dieser Weg mag vielleicht mühsamer sein, doch auf Dauer ist er zielführend, will man ein authentisches, lustvolles und friedliches Leben führen.